Ganz hell, wie silbrig

Nur kurz zu mir und letzter Woche, und dann zu dieser Geschichte. Es ist so: Ich erzähle gerne und das ist neuerdings kompliziert. Weil gewisse Geschichten meiner Glaubhaftigkeit – also sich selbst – offenbar nicht gut getan haben. 

Man müsse, so hörte ich es letzte Woche, einfach einen Drittel bei mir abziehen, um die Tatsächlichkeit zu treffen. Das fand ich dann wirklich ungut. Weil sich natürlich alles immer so zugetragen haben muss, wie ich es erzähle. Sonst würde ich es ja anders erzählen. Ungut fand ich auch, dass ich nicht weiss, wie man eine Erzählung in Drittel teilt und dann den rahmigen Deckel ablüpft. Damit kommen wir zurück zu folgender Geschichte.
Man kann nicht sagen, es sei eine Wolke gewesen, wenn es so war!

Poststrasse 1 in Sarnen. Küchentisch. Hörensagen. Ein Freund erzählt mir von seiner Grossmutter und von einer Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Darin geht es um rückwärts fliegende Flugzeuge und General Guisan und noch so Einiges. Aber eigentlich geht es um ein richtiges, echtes Wunder. So habe seine Grossmutter es genannt und immer wieder davon erzählt. Aber er sei noch klein gewesen, heute wisse er fast nichts mehr darüber. Ich will mehr hören und sehen. In einer nahen Klosterkirche finde ich ein Fresko der erzählten Ereignisse. Es ist die einzige zeitgenössische Darstellung. Auf dem Kirchengemälde sehe ich etwas Unerwartetes: Soldaten, Kanonenfeuer, am Horizont drohender Krieg. Aber dort oben im gemalten Himmel tatsächlich: das Wunder. Und Flugzeuge. Ich finde in dieser Recherche nichts Verlässlicheres mehr, als dieses Ölbild. Einige Wochen später werde ich in Rom sein und vor einer Tafel stehen, auf der das historische Rom der heutigen Stadt gegenüberstellt ist. Bei dem Montageort der Tafel ist die Ansicht oggi / Today so oft berührt worden, dass dort nichts mehr zu sehen ist.
Das ist ja wirklich etwas Einmaliges

Wenn ein Ort viel besucht wird, macht das etwas mit dem Ort. Das Interesse hinterlässt Spurrillen. Und eitlen Nutzen. Die Kulisse wird geschliffen. Und schleifft sich selbst. Fallengelassenes schichtet sich auf. Also wird viel geputzt. Anschaulich soll es sein und bleiben. Es sind Orte für Sightseeing: dem Sehen einer kuratierten Sicht. Es gibt solche Orte auch in der Zeit. Man nennt das dann Erinnerungsorte. Die Schweizer Geschichte scheint mir nicht arm an polierten Gemeinplätzen. 

Mir fällt etwas ein. Ich laufe von der Kirche hoch zum Klostergebäude und frage Sr. Daniela, ob ich mich noch einmal im Archiv umsehen dürfe. Vor einiger Zeit war ich auf dem Dachboden einer seltsamen Devotionalie begegnet. Eine Art Buddelschiff mit Kruzifix. Mir war damals unklar, wie das Kreuz in der Flaschenpost Platz gefunden hatte. Jetzt ist mir die Beschriftung wieder eingefallen, die den Gegenstand vielleicht vor der Entsorgung gerettet hatte: 

Das ist kein
Kitsch.
Bitte aufbewahren!
Wurde nachgefragt.


Ich fahre nach Waldenburg. Dort, im Baselbiet im Mai 1940, habe sich das Wunder zugetragen, von dem Michaels Grossmutter ihm erzählt hatte, als er noch klein war. Sie sei sehr gut zu sehen gewesen, direkt über dem Tal: eine riesige Hand am Himmel. Fünf Finger, näher als der Mond. Abends, den gesamten Baldachin bedeckend. Da. Und dann wieder weg. 
Die Leute, wissen Sie, die sind fast gleichgĂĽltig. Deshalb war es gut, sind die Katholiken gekommen und haben es in die Hand genommen.

Ein eifriger Geistlicher aus Sachseln reist sofort los. Zäher Verkehr. Die Strassen voll Militär, das Land macht mobil. Der Bruder-Klausen-Kaplan Werner Durrer (1907-1981) nimmt vor Ort Zeugenberichte auf. Die Erinnerungen an ein Wunder haben schliesslich frisch zu sein. Mehr oder weniger alle, die aus dem Dorf befragt wurden, berichten das Gleiche. Die Berichte einer seltsamen Handerscheinung im Himmel kursieren anschliessend im ganzen Land. Man findet sie heute in vielen Zeitungsarchiven. 

Der Katholizismus weiss etwas mit der Sichtung eines Körperteils anzufangen. Der Obwaldner Kaplan Durrer empfiehlt dem reformierten Dorf nicht ganz uneigennützig Niklaus von Flüe (1417-1487) als Rumpfkörper. Eine wohlige Unglaublichkeit: Landesvater. Beschützt? So könnte es gewesen sein. Nur vereinzelt wird gefragt, weshalb lediglich eine Hand erschienen war. Die Geschichte setzt sich fest. Auch den Reformierten und anderen Ungläubigen scheint es in Kriegszeiten wohl nicht gänzlich unpraktisch, bedacht zu sein. 1947 bestätigt der Vatikan Niklaus von Flüe das Wunder, der Eremit wird zum Heiligen. Kaplan Durrer soll zeitlebens behaupten, «wen Bruder Klaus einmal erfasst hat, den lässt er nicht mehr los.» 
Ich tu den Bruder Klaus nicht nur verehren, ich hab ihn auch gern

Sie hat sie gesehen, die Hand. Als Kind. Hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder von diesem Erlebnis erzählt. Ich parkiere vor ihrem Haus. Wir treffen uns und sprechen lange. Das Zurückschauen scheint ihr leicht zu fallen. Nichts an ihrer Geschichte wirkt verschwommen. Man kennt sich aus, im eigenen Erzählen. Ab und an blitzen eingeschlichene Details von Anderen auf. Eine Zeitzeugin ist auch Hörensagen. Bei ihr ist nicht weniger Zeit verstrichen.








Ich fahre zurück und denke an letzte Woche. Vielleicht kennt sich mein Publikum auch nur selbst zu gut und traut meinen Erzählungen nicht gänzlich, weil sie sich selbst nicht trauen. Sieht in meinem pirouettierenden Mund das eigene Erinnern. Dort ist es mit der Tatsächlichkeit ja bei allen so eine Sache. Aber was tun, wenn man sich an Unglaubliches erinnert? 







E i n i g e s  B l i n z e l n
galerie hofmatt
13. April — 12. Mai 2024



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