UnnĂĽtze Sonnenstrahlen in so vielen Tiefgaragen. Unvermessene LĂĽcken. Viel liegt da. Eine Welt die nie ist, immerfort wird. Grund genug zu fotografieren.

Letztes Jahr habe ich in der Ausstellung Einiges Blinzeln unter anderem die Geschichte Alp Ohr / Paul ausgestellt. Pia hat für diese Arbeit das Motiv der «Spurensuche» vorgeschlagen. Ich kann gut damit leben, wenn man sich dabei vorstellt, dass man die Spuren selbst legt. Aus einer Archivschachtel in Zürich, auf eine leere Alp und schliesslich in meine Kamera. Die Fabel vom alten Löwen und dem Fuchs. «Schauen tut man mit den Augen, nicht mit den Händen!» Ich mag mich erinnern, schwach. Aber von vorne.

Ich stehe in der ETH-Bibliothek in Zürich und suche eigentlich handfeste Belege für eine alte Strasse. Ich verliere mich ein wenig in den Signaturen, es ist jetzt schon nach Mittag. In einer Schachtel, in einem Stapel, mit säurefreier Schnur gebunden, eine Postkarte, Nr. 3589. Ihr Sujet: ein Ort, den ich gut kenne. In einem Tal, das ich mag. Und etwas, das ich dort noch nie gesehen habe. Bin überrascht, beginne zu suchen. 

Finde immer mehr, bin mit meinem Sehen hängen geblieben. Wir trennen jetzt gemeinsam Reihen auf. Bücher, Zeitungen, Briefe berichten von etwas Sagenhaftem, hoch über dem Dorf. Schön besonders tönt sie, die Vergangenheit. 

Ich wandere zum ersten Mal suchend zu dem Ort. Achte auf den fallenden Schnee. Die weisse Decke am Boden ist hügelig und ich verstecke darunter Indizien. Schwund und Verführung. Zuhören, wie es leiser wird. Bin ganz Ohr, mit den Augen.


Wie leicht sich etwas findet, wenn man weiss, wonach man sucht. 

Fotografierte Pausen im Schatten, leicht verschwommen. Verlobungsfeiern in Schwarzweiss. Man wollte ihn gesehen haben. 

Und zeigen können, dass man ihn gesehen hat.
Stricke Maschen nach. Finde den Anfang. Oder umgekehrt. Hundert Jahre zurück. Der Superlativ verschwand 1925 von dort oben. Lerne, dass es in dieser Geschichte ein einzelnes Datum gibt, einen Spätherbsttag. Ich komme gleich dazu.

Schuld am Zuneigegehen auf der Alp Ohr soll der Wunsch gewesen sein, sich ein eigenes Bild zu machen. Oder ein fleissiger Specht. Bis zuletzt hatte man ihn jedenfalls sehen wollen. Davon berichten, zeigen. Das Gesehene mitnehmen. Wäre die Fotografie  noch nicht da gewesen, man hätte sie gleich dort oben zu diesem Zweck erfunden. Das armgrosse Loch kam gelegen. Auswärtige Schaulustige sollen es gewesen sein. Natürlich sollen es Auswärtige gewesen sein. Schaulustig ist sowieso ein gutes Wort. Bin auch schaulustig.

Ein linker Arm durchs Loch, ein ZĂĽndholz, Licht ins dunkle Innere, ein Fotoapparat mit Blitz. GlĂĽhende Hitze. Es muss lange und hell ins Tal geleuchtet haben. Im Melchtal erinnert sich heute niemand mehr. War auch im Kloster. Die Alten im Dorf wissen von Nichts.



Rämistrasse 101. Ich hatte eigentlich etwas ganz Anderes gesucht. Jetzt also: «Der grösste Ahornbaum der Welt». Den Ort auf dem Postkartensujet kenne ich gut. Aber ein besonders grosser Baum steht da sicher nicht. Nicht mehr? Liesse sich fotografieren, was dort oben nicht mehr ist? Ist nichts mehr da? Die Fehlen, von dem ich weiss, ist immerhin ein bisschen da. Vorbei und doch nicht ganz. Er nistet sich ein, der Baum. Nimmt Platz in mir. Magisches Denken.



Ich will die Lücke vermessen, das Fehlen sehen. Noch einmal sollen sie etwas miteinander zu tun haben, eine Kamera und dieser Bergahorn. Suche per Inserat in der Zeitung einen bestimmten Menschen und denke, dass ich eigentlich sehr spät dran bin. Der Mann, der sich meldet, mag sich nicht erinnern. Er weiss nichts von irgendeinem Baum im Melchtal und das passt mir gut. Damals – Jetzt. Paul passt genau in den Spalt. Ich fotografiere ihn, geboren im Spätherbst 1925. Am richtigen Tag. Verpasst, abgelöst. Anwesende Abwesenheit. «Erinrä isch Luägä midem Chopf.» 






E i n i g e s  B l i n z e l n
galerie hofmatt
13. April — 12. Mai 2024


Studio
Vidmarhallen
Könizstrasse 161
3097 Liebefeld