«THE SOUND THE SUN MAKES»1
(2018)



Ich stelle mir vor, Realität sei Dichte, und deshalb nicht gut zu fassen. Die Gefässe, mit welchen wir abschöpfen und konservieren, sprechen und verstehen wollen, kennzeichnet nicht die Nähe sondern die Distanz zu ihrem Ausgangspunkt. Da ist Dreck auf dem Glas, durch das man sich und die Welt siehst (und das ist entmutigend). Dabei kann der Blick-nach-Aussen vieles sein, er bleibt jedenfalls das einzige Verhältnis zur Welt. Umso verrückter, glaubt man an eine Eigene, sieht man ja immer die Gleiche. Dort wo meine Haut aufhört, fängt die Welt an. Obwohl das (über-die-Welt-)Sprechen der Anderen also nicht wirklich nachvollzogen werden kann – im Idealfall hören wir uns gegenseitig zu – erzählen wir uns eifrig Geschichten.2 Die Einigung auf Sprache eliminiert dabei keine Missverständnisse, sondern fördert sie (die Sprache und die Missverständnisse). Erzählen ist wohl immer ungefähr gelogen (und zählen genau langweilig). Vor allem aber tauscht die Narration: Komplexität mit Macht. Das klingt härter, als es gemeint ist.3 Denn das Problem liegt eigentlich weniger in den Erzählungen, sondern vielleicht eher in der Tatsache, dass wir mit ihnen umgehen müssen, uns nur in Reaktion zu ihnen verhalten können. Eigentlich will Pippi Langstrumpf (Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt) weder Kenntnis, noch Anerkennung von mir und nichts ist daran nicht gernzuhaben. Nur: In einer Ordnung des endemischen Erzählens (und des Ringens um Sichtbarkeit) muss jemand das Zuhören (und das Zusehen) besorgen.

Dabei wären Geschichten eigentlich wunderbare Ausgänge. Ihr Stoff: die vergangene, kommende oder die Welt von Nebenan. Allein als Ein- und Zugänge zur Gegenwart sind sie mir unheimlich. Zu schwer scheint  der notwendige Ballast von Autor*innenschaft. Wo soll es den geben, diesen Standort, von dem aus das  Hier-und-Jetzt sinn-voll reduziert werden kann? Nichts könnte wichtiger für Bildgebungsverfahren und deren Beschreibung sein. Ob Mani Matter hiervon schrieb, als er beim Coiffeur in den Spiegel sah? Die eigene Beziehung zur gerade bewohnten Welt flieht, ständig. Krümmt sich weg, im Spiegelkabinett der Beobachtung. Da gibt es keine Essenz, um das sich die Legende bilden und von der sie erzählen könnte – äs isch ä Wält wo niä isch, immernur wird. Wenn man ehrlich wäre, müsste man sich wohl eingestehen: Eine in Sekundenbruchteilen existierende Beziehung zum Aussen kann nur immer wieder neu empfunden werden und das, bei maximaler Entfernung, höchstens am Übergang. Die Archäologin Kerstin Hoffman findet, Erzählungen überführten «einen Anfangsstatus sinnvoll bzw. nachvollziehbar in einen Endzustand. Sie anerkennen und bewältigen zugleich Kontingenz.»4 Gilt dies nicht auch für Produkte von Kameras? Es ist jedenfalls eine schöne Unwahrscheinlichkeit, dass sich ein unzählbares Aussen in einem Menschen zu zählbaren Eindrücken bündelt, wie durch ein Objektiv. Womit mir das Geschriebene endlich dort entgegenkommt, wo es sich handfester anfühlt – in meinem täglichen Tun. Fotografie kann nicht die Wahrheit des Festgehaltenen zeigen, sondern lediglich dessen stärkste Form. Verrückt: Sehen geschieht weder im Gesehenen, noch in den Sehenden, sondern exakt dazwischen.

Mit Verlusten rechnen

Von tausend Bildern bleibt womöglich nur ein erzählendes Sehen, welches das Here We Are Today katalogisiert.5 Aber eben nie wo, sondern nur wie: immer hinnädri. Nichts möchte ich an dieser Stelle sagen über inhaltliche Ambiguität oder den Verlust durch Reduktion, darum soll es hier nicht gehen. Interessanter scheint mir das hinterhereilende Moment jeder beobachtenden Fixierung: «Wenn irgendetwas Bild werden möchte, so nicht, um anzudauern, sondern um besser verschwinden zu können.»6 Hinnädri also erstens, weil Geschichten das Zeitliche segnen. Sie beschwören das Stehenbleiben einer Uhr, die es ohne sie nicht geben würde. Und hinnädri zweitens, weil offenbar alles Licht und damit schneller im Verwandeln ist, als wir (er-)zählen können: mit Lichtgeschwindigkeit. Es sieht so aus, als genüge der Blick auf etwas, um es zu verändern. Ich kann das nur halbbatzig mit Quantenphysik beschreiben aber ganzbatzig mit meinem Spiegelbild.7 Oder mit Tourismus. Oder so: «Wenn ein Photon absorbiert und dadurch ‚gemessen’ wird – bis zu seiner Absorption hat es keine Wirklichkeit –, wird ein unteilbares Informations-Bit zu dem hinzugefügt, was wir über die Welt wissen, und gleichzeitig determiniert das Informations-Bit die Struktur eines kleinen Teils der Welt. Es ‚schafft‘ die Realität von Zeit und Raum dieses Photons.»

Praktisch heisst das wohl, dass jeder Blick-nach-Aussen das Aussen gewesen macht. Dass die Realität nach der Beobachtung um eine Fixierung reicher als die vorherige ist. Und die Welt von unserem (und Pippis) Festhalten davongeschieht. Bildgebungsverfahren mit der Absicht des Konservierens mögen darum sinn-, aber in anderer Hinsicht nicht zwingend nutzlos sein. Ob der Griesgram Friedrich Nietzsche die Fotografie mochte? Nichts Genaues weiss ich.9 Aber ich will ihn kurz monieren lassen, um anschliessend auf die Zielgerade dieser Einleitung einzubiegen. «Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?…»10

Die kommende Welt

Wenn man Seifenblasen für ihre kurze Zeit beim Fliegen zusieht, kann man auf ihren Oberflächen Ölschwaden umherwandern sehen, ein wenig wie Wolken. Sie sind auf der Oberfläche und gleichzeitig sind sie die Oberfläche. Stattzufinden heisst, in einem unwahrscheinlich dünnen Raum stattzufinden. Nirgends ein ‘Innen’, in das ich sehen kann. Unseren dafür erdachten Kompromissen, den Kulturprodukten, ergeht es genauso. Nur bei Harry Potter kann man in die Bilder sehen, der Rest von uns muss sich mit dem Sehen auf die Bilder begnügen. Ich stelle mir vor, dass wir und unsere Bilder von aussen (also so wirklich von aussen, sagen wir mit Nietzsche: «allen Sonnen») her gesehen, dem unendlich «leeren Raum» des Alls wie der Ölfilm einer Seifenblase entgegenglitzern. Irgendwo wird die Atmosphäre dünn, die Luft ist nicht mehr zu atmen und der «thin film within which we live» zu Ende.11 Sich im Übergang aufzuhalten ist nicht uns oder unseren Bildern möglich, sondern nur der Gegenwart, dem Sehen; schliesslich: der sehenden Gegenwart.

«Es gibt bei den Chassidim einen Spruch von der kommenden Welt, der besagt: es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns. Wie unsre Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein; wo unser Kind jetzt schläft, da wird es auch in der kommenden Welt schlafen. Was wir in dieser Welt am Leibe tragen, das werden wir auch in der kommenden Welt anhaben. Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders. So hält es die Phantasie. Es ist nur ein Schleier, den sie über die Ferne zieht. Alles mag da stehen wie es stand, aber der Schleier wallt, und unmerklich verschiebt sich’s darunter.»
12 

Ein Negativ illustriert, was auch für digitale Bilderzeugnisse gilt: sie bezeugen, wenn Zeit zum Ding wird. Die räumliche Strecke von ‘Innen’ und ‘Aussen’ verschränkt sich auf einer Fotografie mit der zeitlichen Distanz zwischen Geschehen und Noch-nicht-geschehen. In dem fabelhaften Moment, in dem ich eine Fotografie ansehe, teilt sich das Bild mit meiner Welt: mich, den Betrachter. Es passiert auf der Grenze des Bildes, die man dehalb nur schwer sehen kann. Ich stell’ mir vor, dass mit Bildern Löcher durch einen Stoff gelegt werden kann; Brunnenschnorchel durch Zeit. Nicht, dass sich Zeit irgendwo festhalten lässt – das Gegenteil davon habe ich oben notiert. Aber plötzlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob unsere eingangs erwähnten Gefässe wirklich nur mit uns zu tun haben und wir alles von uns weg beobachten. Denn ist es nicht vielmehr so, dass das Licht, vor acht Minuten losgezogen auf dem Weg hierher, uns immer einen Schritt vorraus ist, die Veränderungen sogar antizipiert? In Sternen wird nichts Zukünftiges lauern, denn ihr Licht ist alt, ihr Aufenthalt ausschliesslich Vergangenheit. Das Sehen, als Kompromiss: Allgegenwart. Mein iPhone hat wieder ein Jahr lang gefilmt was sich verändert. Du kannst dir kein Bildnis vom Bildnis-machen machen, oder?

Dezember 2017


01-01-2017-31-12-2017 / 218 RECORDINGS IN CHRONOLOGICAL ORDER.



1 Willingham, AJ, Hear the sounds the sun makes. They're surprisingly soothing, 27.07.2018, online unter https://edition.cnn.com/2018/07/27/us/sun-sounds-nasa-son

2 «Wir können uns nicht in sie finden.[...] Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen», Ludwig Wittgenstein zit. bei Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung, Frankfurt 1983, S. 20;  Frampton, Hollis, A Pentagram for Conjuring the Narrative, in: On the Camera Arts and Consecutive Matters: The Writings of Hollis Frampton, 2009; Assheuer, Thomas, Die Welt als Reportage, in: DIE ZEIT Nr. 1/2019, zeit.de/2019/01/journalismus-reportagen-wirklichkeit-aufklaerung-claas-relotius; zeit.de/kultur/2015-12/selbstverwirklichung-optimierung-essay/komplettansicht; Das Gleichnis der Haut als Grenze zwischen mir und der Welt hat mir der Sarner Künstler Markus Bürgi in den Kopf gesetzt. Es (das Gleichnis) hat ihn (meinen Kopf) seither nicht mehr verlassen; Eveleth, Rose, How fake images change our memory and behaviour, in: https://www.bbc.com/future/article/20121213-fake-pictures-make-real-memories; Zur Behauptung narrare necesse est siehe Marquard, Odo, Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens, S. 55-71. Ein sehr Marquardscher Absatz dazu: «die moderne Welt ist zugleich die Welt der Geschichtslosigkeit und die Welt der - kompensatorischen - Vergeschichtlichung. […] Noch nie wurde so viel weggeworfen wie heutzutage; noch nie wurde so viel aufbewahrt wie heutzutage: wir leben nicht nur im Zeitalter der Entsorgungsdeponien, sondern zugleich auch - kompensatorisch - im Zeitalter der Erinnerungsdeponien, der großen Organe der Erzählung.» (Ebd., S. 66f.)



3 Hierzu ein seltenes ‘Ich’ bei Michel Foucault: «Ich hätte gewünscht, während meines Sprechens eine Stimme ohne Name zu vernehmen, die mir immer schon voraus war: ich wäre es dann zufrieden gewesen, (...) mich in ihren Fugen unbemerkt einzunisten, gleichsam, als hätte sie mir ein Zeichen gegeben, in dem sie für einen Augenblick aussetzte.», in: Foucault, Michel, Ordnung des Diskurses, Berlin 1990, S. 9; «jener Gewalten, die die Geschichten», Marquard, Zukunft, S. 62f.;

4 Hoffmann, Kerstin P., In Geschichten verstrickt – Menschen, Dinge, Identitäten, in: Dietrich Boschung, Patric A. Kreuz,Tobias Kienlin (Hg.), Biography of Objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts. (Morphomata 31) München 2015, S. 87-123, S. 92.

5 Korzybski, Alfred, Science and Sanity, 1994; Zinnecker, Florian, Und hinter tausend Bildern eine Welt, in: DIE ZEIT, https://www.zeit.de/hamburg/2019-06/here-we-are-today-bucerius-kunst-forum-fotoausstellung.  

6 Baudrillard, Jean, Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität, in: Texte zur Theorie der Fotografie, hg. von Bernd Stiegler, Stuttgart 2017, S. 50-58, S. 51.

7 Schrott, Raoul, Was liegt südlich vom Südpol?, in: NZZ, https://www.nzz.ch/feuilleton/poesie-und-physik-was-liegt-suedlich-vom-suedpol-ld.147711?reduced=true; Zum verändernden Beobachten und dem Welle-Teilchen-Dualismus ansatzweise eine Einführung: https://www.leifiphysik.de/quantenphysik/quantenobjekt-elektron/welle-teilchen-dualismus.


8 Weyh, Florian Felix, DigiKant oder: Vier Fragen, frisch gestellt, in: Philosophie in der digitalen Welt, online unter https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-in-der-digitalen-welt-digikant-oder-vier-fragen.1184.de.html?dram:article_id=454492.

9 Metzmacher, Weyh, Nietzsche und die Fotografie. Essay, in: fotosinn, online unter: https://fotosinn.de/essays/nietzsche. 

10 Nietzsche, Friedrich,
Menschliches, Allzumenschliches, Viertes Hauptstück, Aphorismus 222 «Was von der Kunst übrig bleibt» (KSA 2, S. 186).

11 Latour, Bruno, Facing Gaia: Eight Lectures on the New Climatic Regime, Cambridge 2017, S. 79; eine Kritik bei Grolimund, Remo, DAS TERRESTRISCHE MANIFEST. Gebunden im Biofilm, in: WOZ. Nr. 27/2018 vom 05.07.2018, unter: https://www.woz.ch/-8e1d; https://www.explainxkcd.com/wiki/index.php/2004:_Sun_and_Earth

12 Benjamin, Walter, Denkbilder, Frankfurt am Main 1994, S. 120.